
Warum wir Lewins „3-Phasen-Modell“ falsch verstehen
Allen, die sich zum Thema Veränderung einlesen, wird früher oder später Kurt Lewins 3-Phasen-Modell (Unfreeze – Move – Freeze) der Veränderung begegnen. Als Prototyp aller Veränderungsmodelle, diente es vielen großen Denker:innen als Inspiration, wurde aber auch regelmäßig kritisiert. In diesem Blogbeitrag führe ich aus, warum wir Lewin unrecht tun, wenn wir allein seinem Modell solch eine prominente Rolle im Change Management zuweisen. Durch Lewins frühen Tod konnte er seine Gedanken zum Thema Veränderung nicht zu Ende führen, sodass die drei Phasen eher lose Orientierungspunkte sind. Das Modell wurde also nicht in eigenständigen Publikationen ausgearbeitet, sondern erscheint als Randnotiz in einem Artikel erscheint, in dem es auch im die Konflikte in Ehen geht. Die Sakralisierung des Modells erfolgte von Lewins Nachfolger:innen, meistens um ihre Arbeit mit Bezug zu Lewin – dem „Vater der Organisationsentwicklung“ – zu legitimieren. Doch helfen Modelle, die Veränderungen in fest definierten Phasen beschreiben, überhaupt in der Praxis? Ich glaube nicht. Stattdessen gehe ich darauf ein, warum ein Verständnis von Veränderung als kontinuierlicher Wandel uns eher hilft Organisationen erfolgreich zu begleiten.

Was steckt hinter Lewins Modell?
Zum Zeitpunkt seines Todes im Jahr 1947 galt Kurt Lewin als einer der bedeutendsten Psychologen seiner Zeit. Heute ist er vor allem für sein 3-Phasen-Modell der Veränderung bekannt. Dabei war das Modell einer geplanten Veränderung aber nie eines seiner Haupthemen. Das Modell erscheint in seinem vorletzten Artikel (auf den letzten Artikel, den Lewin aufgrund seines Todes nicht mehr beenden konnte, gehe ich noch später im Beitrag ein). Dieser Artikel ist der erste der renommierten Zeitschrift Human Relations und heißt „Frontieres in Group Dynamics“. Zum besseren Verständnis hier einmal der komplette Textabschnitt zum Modell (Lewin, 1947, pp. 34–35, eigene Übersetzung):
“6. Changing as three steps: Unfreezing, moving, and freezing of group standards
Eine Veränderung in Richtung eines höheren Niveaus der Gruppenleistung ist häufig nur von kurzer Dauer; nach einem “Streifschuss” kehrt das Gruppenleben bald wieder auf das vorherige Niveau zurück. Dies zeigt, dass es nicht ausreicht, das Ziel einer geplanten Veränderung der Gruppenleistung als das Erreichen eines anderen Niveaus zu definieren. Die Dauerhaftigkeit des neuen Niveaus bzw. die Dauerhaftigkeit für einen gewünschten Zeitraum sollte in die Zielsetzung einbezogen werden. Eine erfolgreiche Veränderung beinhaltet also drei Aspekte: Unfreeze (wenn nötig) der gegenwärtigen Ebene L1, der Move auf die neue Ebene L2 und das Freeze des Gruppenlebens auf der neuen Ebene. Da jede Ebene durch ein Kraftfeld bestimmt wird, impliziert das Freeze, dass das neue Kraftfeld relativ sicher gegen Veränderungen gemacht wird. Das “Unfreeze” der aktuellen Ebene kann in verschiedenen Fällen ganz unterschiedliche Probleme mit sich bringen. Allport hat die “Katharsis” beschrieben, die notwendig zu sein scheint, bevor Vorurteile beseitigt werden können. Um die Hülle der Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit aufzubrechen, ist es manchmal notwendig, absichtlich eine emotionale Aufwühlung herbeizuführen. Das Gleiche gilt für das Problem des Freeze der neuen Ebene. Manchmal ist es möglich, einen organisatorischen Aufbau zu etablieren, der einem stabilen zirkulären Kausalprozess entspricht.
Dies ist die komplette Modellbeschreibung, die als 6. Absatz unter dem Abschnitt „D. The Creation of Permanent Changes“ auftaucht. Wie die Überschrift des Artikels (Frontiers in Group Dynamics) verdeutlicht, geht es gar nicht um organisationale Veränderungen, sondern Lewin interessiert sich eher für das Gruppengesehen. Entsprechend heißen die vorherigen Absätze auch „5. Individual procedures and group procedures of changing social conduct“ und “7. Group Decision as a Change Procedure”. Der Fokus auf Gruppen überrascht nicht, hat Lewin doch den Begriff Gruppendynamik geprägt und als einer der ersten das Verhalten von Menschen in Gruppen untersucht. Er untersuchte daher nicht, wie sich eine organisationale Veränderung einfrieren lässt, sondern beschreibt im 7. Absatz, wie sich Gruppennormen und Partizipation dazu nutzen lassen, dass Mütter die Ernährungsweise, hin zu einem gesünderen Speiseplan, ändern.
Dieses Modell wurde u.a. wegen seiner “Einfachheit” kritisiert, was jedoch die Verbindungen zum übrigen Werk von Lewin außer Acht lässt. Wie Burnes (2020) zeigt – und ich in künftigen Blogbeiträgen weiter ausführen werde – kann man Lewins Gedanken zum Thema Veränderung nur verstehen, wenn man seine Feldtheorie berücksichtigt. Dann lassen sich auch seltsame Begriffe wie „Kraftfeld“ besser einsortieren.
Weiterentwicklungen von Lewins Modell
Bereits kurz nach Lewins Tod haben seine ehemaligen Schüler:innen und Kolleg:innen sein Modell weiterentwickelt. Bspw. haben Lippitt et al. (1958) einen fünfstufigen Prozess (1. Develop need for change, 2. Establish change relationships, 3. Work toward the change, 4. Stabilize change, 5. Achieve terminal relations) vorgelegt. Eine Übersicht weiterer Veränderungsmodelle, die sich auf Lewin (mehr oder weniger explizit) berufen, findest du hier. Zur Illustrationszwecken, möchte ich hier nur ein Modell hervorheben und zwar den 8-Stufen Prozess von Kotter (1996), als eines der einflussreichsten Veränderungsmodelle in der Change Literatur. Wie Tabelle 1 zeigt, sind die von Kotter formulierten Schritte nicht grundsätzlich neu, sondern lassen sich gut in die drei Schritte von Lewin integrieren.
Tabelle 1

Das Beispiel illustriert, dass die Autor:innen mit Bezug auf Veränderungsmodelle wenig Neues entwickelt hat, sondern eher Verfeinerungen von Lewins Modell. Oder wie Rosenbaum et al. (2018, S. 287-8) es beschreiben: “So gesehen sind diese Modelle keine eigenständigen Charakterisierungen des Wandels; sie können vielmehr als das “Wie” eines übergreifenden Rahmens - dem 3-Phasen-Modell - betrachtet werden.”
Doch auch wenn Lewins Modell gut gealtert zu sein scheint, wurde es regelmäßig kritisiert. Auf diese Stimmen möchte ich im Folgenden eingehen.
Warum Lewin (zu Unrecht) kritisiert wird
Zum Zeitpunkt seines Todes befand sich das 3-Phasen-Modell noch in einer Entwicklungsphase und war weit davon entfernt, eine konkrete Handlungsanweisung zu sein. Dies hinderte spätere Autor:innen nicht daran, Lewins Modell als Grundlage für ihre Arbeiten zu nutzen oder zu kritisieren. Häufig war der Bezug und die Auseinandersetzung mit den ursprünglichen Gedanken Lewins aber recht locker. Dies spiegelt sich unter anderem darin, dass sich die Terminologie ändert. Bspw. wurde aus „Freeze“ das „Re-Freeze“. Auf den ersten Blick mag das Wiedereinfrieren von etwas, das aufgetaut wurde, intuitiv sein, verdeckt aber einen wichtigen Aspekt von Lewins Idee: Es ist nicht das Ziel, Verhaltensweisen, die wir auf niedrigeren Ebenen gesehen haben, wieder einzufrieren, sondern wir wollen qualitativ neue Verhaltensweisen einfrieren, die in der bewegten Phase entwickelt worden sind.
Andere Autor:innen (z. B. Kanter et al., 1992) kritisieren, dass Lewins Veränderungsmodell zu stark vereinfacht und eine mechanische Sichtweise auf Organisationen beschreibt. Lewin vertrat jedoch nie eine dualistische Sichtweise, bei der Stabilität ein Zustand und organisatorischer Wandel ein anderer ist. Stattdessen verstand er sie als relative Begriffe. Das tägliche Leben ist nie ohne Veränderungen, es ist vielmehr die Magnitude, ob wir einen Zustand als sich verändernd oder stabil betrachten. Aus dieser Perspektive sind Veränderung und Stabilität zwei verschiedene Pole derselben Dimension, und das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Daher bezeichnete Lewin den aktuellen Zustand nicht als stationäres Gleichgewicht, sondern verwendete den Begriff des quasi-stationären Gleichgewichts, um die die Volatilität lebender Systeme zu beschreiben.
Zudem beschreiben Rosenbaum et al. (2018), dass Lewins Modell fälschlicherweise oft als linearer Ansatz verstanden wurde. Doch wenn wir Lewins Arbeiten zur Aktionsforschung und Gruppendynamik berücksichtigen, dann wird deutlich, dass er eine flexible und iterative Herangehensweise vertrat. D.h. basierend auf Feedback, sollten Berater:innen ihr Vorgehen anpassen.
Warum Modelle Veränderungen nicht immer fördern
In der Praxis werden Modelle auch gerne als „Tools“ oder „Instrumente“ verkauft, mit denen eine Organisation repariert werden kann. Diese mechanische Sicht auf Organisationen, die sich als lebendige und komplexe Systeme, fixen lassen, in dem man mit einem Schraubenzieher ein paar lose Elemente wieder festzieht, verwundert. Warum der Sinn und die Unterstützung für Veränderungen sich nicht mechanisch erzeugen lässt, sondern im Dialog entsteht, habe ich hier beschrieben. Mit Blick auf Modelle, bleibt somit festzuhalten, dass sie auch gerne eine Vereinfachung und Vorhersagbarkeit liefern, die sich gut verkaufen lässt.
Dabei wusste schon Lewin, dass sich die notwendigen Aktionen, die im Verlauf einer Veränderung notwendig sind, aus den Erkenntnissen der vorherigen Schritte ergeben. Entsprechend vermied er es auch, die einzelnen Schritte zu benennen, wie seine Darstellung der Aktionsforschung (Abbildung 1, Lewin, 1947b, S. 1949) aus seinem letzten Artikel verdeutlicht.
Abbildung 1

Zudem sind Veränderungsmodelle meist so abstrakt gehalten, dass sie intuitiv sind und Kopfnicken auslösen. Doch wenn wir vor der Frage stehen, wie eine Kommunikationsstrategie entwickelt oder neue Ansätze in einer Kultur verankern kann, wird es dorniger. Oder wie Ford und Ford (2008, S. 462) es beschreiben: “Es ist eine Sache zu sagen, dass Manager:innen kommunizieren müssen, um die Leute auf dem Laufenden zu halten, um sie in die Veränderung einzubeziehen oder um eine Richtung vorzugeben, und eine ganz andere, solche Richtlinien in spezifische Arten von Gesprächen zu übersetzen.” Wie Berater:innen kommunizieren können, hat Kerstin hier beschrieben, Annika und Alex haben zudem erklärt, wie Feedback gegeben werden kann. Statt also auf die Kommunikation zu schauen, möchte ich mit dem Vorschlag enden, statt sich auf Modelle zu versteifen, zu hinterfragen, wie wir organisationalen Wandel grundsätzlich verstehen.
Wie verstehen wir organisationale Veränderung: Episodisch oder kontinuierlich?
Wie beschrieben, ist die Vorstellung, dass organisationale Veränderungen linear nach den Schritten Unfreeze-Move-Freeze funktionieren zu simpel (und war auch nicht Lewins Überzeugung). Meist werden gleichzeitig mehrere Veränderungsziele verfolgt und parallel mehrere Veränderungsmaßnahmen implementiert. Projekte überlappen sich und eine Organisation befindet sich gleichzeitig in verschiedenen Phasen.
Von daher lässt sich Lewins Idee, dass sich Wandel im Gruppenkontext planen lässt („planned change“), nicht auf eine gesamte Organisation übertragen. Um dem Rechnung zu tragen, stellen Weick und Quinn, 1999) der Vorstellung eines geplanten, episodischen Wandels das Ideal einer emergenten, kontinuierlichen Veränderungen gegenüber (siehe Tabelle 2). Im Gegensatz zum geplanten Wandel gibt es beim kontinuierlichen Wandel weniger fundamentale Veränderungen, die einen klaren Zielzustand definieren, sondern wiederkehrende, wechselseige Abstimmungen der Praktiken über die Zeit. Die Organisation sollte daher so flexibel sein und eine Umgebung bieten, die das Auftreten von natürlichen Veränderungen unterstützt.
Tabelle 2

Ob eine Veränderung als episodisch oder kontinuierlich angesehen wird, ist nicht nur von Form der Organisation, sondern vom Standpunkt des Betrachters abhängig: Aus der Ferne (Makroperspektive) sieht Veränderung eher episodisch aus, bildlich gesprochen verläuft die Linie gerade, nur vereinzelt sieht man größere Ausschläge, die einen revolutionären Wandel verdeutlichen. Aus der Nähe, der Mikroebene, hingegen stell man fest, dass permanent eine Anpassung und Justierung des Gruppenverhaltens stattfindet.
Durch diese Beschreibung wird deutlich, dass der emergente Wandel den Mitarbeitenden eine aktive Rolle im Verlauf der Veränderungen zuspricht, in der sie nicht nur reagieren, sondern auch agieren. So gesehen kann der natürliche Wandel auch als ein Ideal bezeichnet werden: Die Mitarbeiter:innen erkennen, dass sich die Gegebenheiten ändern und eine kontinuierliche strategische Anpassung nötig machen. Die Organisation ist im kontinuierlichen Fluss und die Mitarbeiter:innen bilden selbstständig soziale Gruppen, die die Anforderungen passgenau bewältigen und sich bei gegebener Zeit neu formieren um die nächste Aufgabe zu bewältigen. Statt eines konkreten Endziels, strebt die Organisation also kontinuierliche Verbesserung an. Es es realistisch, dass dies so passiert? Eher nicht. Ist es dennoch anstrebenswert? Ich denke ja.
Denn wenn wir ehrlich sind, funktionieren Organisationen häufig erst einmal ins Blaue hinein, das Sinn geben geschieht in der Regel erst später (Weick, 1979). D.h. ob Gründe für den Erfolg oder Mißerfolg einer Strategie gefunden werden müssen, erfolgt ex post. Weitergedacht bedeutet dies, dass übermäßige Planung ein netter aber häufig sinnfreier Zeitvertreib ist. Denn ob eine Strategie erfolgreich ist oder nicht, hängt primär von Zufall und externen Bedingungen ab.
Die Abwesenheit von Planungssicherheit setzt ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz voraus. Ambiguitätstoleranz beschreibt das Aushalten von Unsicherheiten. Für Berater:innen resultiert daraus die Aufgabe, eine kontinuierliche Veränderung so zu begleiten, dass die Unsicherheit nicht lähmt, sondern die Mitarbeiter:innen den Wandel aktiv mitgestalten. Welche Schritte dafür wann notwendig sind, lässt sich in der Regel nicht vorhersagen, dafür ist jede Organisation und jede Veränderung zu einzigartig.
Ausblick
In kommenden Beiträgen möchte ich mich noch stärker Lewin Feldtheorie widmen, um das Fundament zu beschreiben, auf welchem die Idee des 3-Phasenmodells fußt. Alle, die bis dahin schon mehr lesen möchten, empfehle ich Burnes (2020) Beitrag: „The Origins of Lewin’s Three-Step Model of Change“.
Referenzen
Burnes, B. (2020). The origins of Lewin’s three-step model of change. The Journal of Applied Behavioral Science, 56(1), 32–59. https://doi.org/10.1177/0021886319892685
Ford, J. D., & Ford, L. W. (2008). Conversational profiles: A tool for altering the conversational patterns of change managers. The Journal of Applied Behavioral Science, 44(4), 445–467. https://doi.org/10.1177/0021886308322076
Kanter, R. M., Stein, B., & Jick, T. (1992). The challenge of organizational change: How companies experience it and leaders guide it. Free Press; Maxwell Macmillan Canada; Maxwell Macmillan International.
Kotter, J. P. (1996). Leading change. Harvard Business School Press.
Lewin, K. (1947a). Frontiers in group dynamics: concept, method and reality in social science; social equilibria and social change. Human Relations, 1(1), 5–41. https://doi.org/10.1177/001872674700100103
Lewin, K. (1947b). Frontiers in group dynamics: II. Channels of group life; social planning and action research. Human Relations, 1(2), 143–153. https://doi.org/10.1177/001872674700100201
Lippitt, R., Watson, J., & Westley, B. (1958). The dynamics of planned change: A comparative study of principles and techniques. Harcourt, Brace & Company.
Rosenbaum, D., More, E., & Steane, P. (2018). Planned organisational change management: forward to the past? An exploratory literature review. Journal of Organizational Change Management, 31(2), 286–303. https://doi.org/10.1108/JOCM-06-2015-0089
Weick, K. E., & Quinn, R. E. (1999). Organizational change and development. Annual Review of Psychology, 50, 361–386. https://doi.org/10.1146/annurev.psych.50.1.361
Weick, K. E. (1979). The social psychology of organizing (2d ed.). Topics in social psychology. Addison-Wesley Pub. Co.