Back to the roots: Wie Kurt Lewin Dir hilft ein besserer Design Thinker zu werden

– Kategorie: Design Thinking – Lesedauer: 11.7 Minuten
Organisationen sollen agiler und nutzerorientierter werden. Als Weg dies zu erreichen, wird oft Design Thinking vorgeschlagen. Doch für die Einführung von Design Thinking in organisationale Strukturen müssen in der Regel einige, Barrieren überwunden werden. Überraschenderweise gibt es hierzu jahrzehntealte Ideen. Vorausgedacht und auch teilweise schon umgesetzt vom Psychologen Kurt Lewin.

Ich denke, dass Kurt Lewins Ideen uns bei der Lösung vieler Herausforderungen helfen können. (Blogartikel zum nachlesen). In diesem Beitrag fokussiere ich mich darauf, wie Lewin’s Ansätze dabei unterstützen können, Design Thinking als Instrument zur Organisationsentwicklung (OE) nutzen zu können.
OE ist das systematische Bestreben, die Effektivität und die Problemlösungskapazitäten einer Organisation zu verbessern, um sie an die Anforderungen der Umwelt anzupassen. Obwohl die OE in der heutigen, komplexen Welt wichtiger denn je ist, um mitarbeiterorientierte Lösungen zu entwickeln, dominieren mechanische Change Management Ansätze den Unternehmensalltag.

Für weitere Informationen empfehle ich unseren wissenschaftlichen Beitrag Kurt Lewin’s ideas are alive! But why doesn’t anybody recognize them?

Lewin als Gründungsfigur der Organisationsentwicklung

Dank der Aktionsforschung, seines humanistisch-partizipativen Vorgehens und seines enormen Einflusses auf die erste Generation von OE-Praktikern und -Wissenschaftlern, kann Lewin als Vater der Organisationsentwicklung verstanden werden. Diese Kollegen und Schülerinnen (z.B. Chris Argyris, Douglas McGregor, Warren Bennis, Margaret Mead) machten die Organisationsentwicklung in den 1950er und 60er Jahren zum gängigen Beratungsansatz. Doch Appreciative Inquiry (dt. „Wertschätzendes Erkkunden) war die letzte bedeutende Verbesserung und das OD-Feld verlor allmählich seine Bedeutung.

Design Thinking

Heutzutage wird jedoch zunehmend erkannt, dass Organisationen neue Ansätze benötigen, um mit einem komplexen Umfeld fertig zu werden (Stichwort VUKA). Eine dieser neuen Methoden ist Design Thinking - ein teambasierter Ansatz, der sich auf einen definierten Prozess stützt, der die menschlichen Bedürfnisse erforscht und berücksichtigt, bevor eine Lösung entwickelt wird. Ein Design-Thinking-Prozess beginnt in der Regel mit einer definierten Herausforderung, bspw.

“Wie können wir die Ökobilanz unserer Organisation verbessern?” (Das Beispiel kannst du hier nachlesen.)

Diese Aufgabe wird an ein selbstverwaltetes Team von Design Thinking Experten delegiert. Das Team folgt einem vordefinierten Weg, beispielsweise den vier Schritten des Double-Diamond: Schritten:

Entdecken, Definieren, Entwickeln und Umsetzen

Entdecken. Design Thinking Teams versuchen, ein tiefes Verständnis der Nutzerperspektive zu erlangen, vorzugsweise durch lebendige Einblicke, die durch Beobachtung und Interviews gewonnen werden. Für die Nachhaltigkeitsherausforderung untersuchte das Team verschiedene Nachhaltigkeitsbereiche, wie z. B. Elektrizität, Mobilität und Abfallproduktion.

Definieren. Die Teams müssen sich auf die wichtigsten Bedürfnisse und Erkenntnisse konzentrieren. Dies geht oft Hand in Hand mit der Re-Formulierung der Herausforderung, da die während der Entdecken-Phase gesammelten Erkenntnisse zu einem neuen Verständnis oder zur Infragestellung von Selbstverständlichkeiten führen können. In unserem Beispiel entschied das Team, dass die Abfallproduktion, insbesondere die Verwendung von Einwegbechern, eine Herausforderung darstellt, die es wert ist, angegangen zu werden. Die wichtigsten Bedürfnisse der Mitarbeiter wurden in “Wie könnten wir”-Fragen umformuliert, z. B. “Wie könnten wir die Verwendung von Mehrwegbechern so mühelos gestaltet werden wie die Verwendung von Einwegbechern?”

Entwickeln. Um kreative Lösungen zu entwickeln, die den Bedürfnissen der Nutzer:innen gerecht werden, wird das Team ermutigt, über den Tellerrand hinauszuschauen, da die Ideen der Mitarbeitenden sonst durch ihre derzeitigen Vorstellungen eingeschränkt werden. In unserem Beispiel entwickelte das Team einen Prototyp, bei dem wiederverwendbare Becher über RFID-Chips mit den Nutzer:innen verbunden werden, wodurch die Becher personalisiert sind.

Umsetzen. In dieser Phase werden die “Wow”-Ideen in Ideen umgewandelt, die in organisatorische Strukturen integriert werden können (“Was funktioniert?”). In unserem Beispiel erfuhr das Team, dass es Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes und der Robustheit der RFID-Chips gab und dass der Scanvorgang an der Kasse zu lange dauert. Die Verfeinerung führte zur endgültigen Lösung, einem wiederverwendbaren Bechersystem, bei dem Benutzer:innen weder Pfand zahlen noch in einer Warteschlange warten muss. Mehrere Tests zeigten, dass die wiederverwendbaren Becher zurückgegeben und nicht mit nach Hause genommen wurden, wodurch die Befürchtung, dass die Becher gestohlen werden könnten, ausgeräumt wurde.

Probleme, Design Thinking für die Organisationsentwicklung zu nutzen

Design Thinking gilt als vielversprechender Ansatz, um organisatorische Veränderungen zu initiieren (Elsbach & Stigliani, 2018). Dennoch hat Design Thinking noch nicht sein volles Potenzial innerhalb von Organisationsstrukturen erreicht (Kurtmollaiev et al., 2018; Micheli et al., 2019; Shapira et al., 2017). Tabelle 1 fasst vier Aspekte zusammen, die die Anwendung von Design Thinking als wirksames Instrument für die Organisationsentwicklung untergraben, und zeigt, wie Lewins Ideen helfen könnten, diese Hindernisse zu überwinden.

Tabelle 1.

Design Thinking Phase Barrieren, die verhindern, dass Design Thinking zur OE eingesetzt werden kann Wie Lewins Ideen zu einer Verbesserung der Situation beitragen können
Entdecken Den Teams mangelt es an der Fähigkeit, aufschlussreiche Interviews zu führen Durchführung von Aktionsinterviews
Definieren Teams haben eine Intoleranz gegenüber Mehrdeutigkeit und Angst vor dem Scheitern Integriere unerwartete Erkenntnisse, um des “Pudels Kern” zu finden (abduktives Denken)
Entwickeln Dysfunktionale Teamdynamik untergräbt effektive Ideenfindung Verhaltensbeobachtung nutzen um effektives Feedback zu geben
Umsetzen Zu starke Betonung der Ideenfindung im Vergleich zur Umsetzung Mitarbeitende zu Mitforschenden machen

Wie Lewins Ideen dazu beitragen könnten, Design Thinking als OE-Ansatz zu etablieren

Verbesserung der Entdeckungsphase: Ein entscheidendes Merkmal des Design Thinking Prozesses ist ein tieferes Verständnis des Problemkontextes zu entwickeln. Häufig haben Design Thinking Teams jedoch Probleme, das “echte” Problem zu erforschen. So können sie beispielsweise Interviews auslassen oder schlampig durchführen, um schnell zur Lösungsphase zu gelangen. Außerdem fehlt dem Team möglicherweise die Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen, damit sich die Mitarbeitenden sicher fühlen und sich öffnen. Lewin betrachtete erfolgreiche Interventionen als einen iterativen Prozess, bei dem die Diagnose und die Veränderungsmaßnahmen untrennbar miteinander verbunden sind. Zu diesem Zweck schlug Lewin den Einsatz von Aktionsinterviews vor, die dazu beitragen, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, indem sie oft “die Situation mit ein oder zwei Witzen auflockern”. Lewin merkte an, dass es dadurch leichter sei, ein gegenseitiges Verständnis für ein aktuelles Problem zu schaffen, wie z. B. in dem Fall, dass die Ursache des Konflikts wurde schnell auf die “Ungeduld der [Maschinisten aufgrund] der knappen Zeit der Mechaniker” zurückgeführt. Während eines Aktionsinterviews sammeln oder präsentieren die Teams nicht nur Fakten und stellen fest, ob etwas richtig oder falsch ist. Stattdessen kann ein Design Thinking-Team ein Aktionsinterview nutzen, um die Aufmerksamkeit der Befragten auf die Bedürfnisse der Nutzer:innen zu lenken. Die befragten Mitarbeiter werden ermutigt, ihre Meinung zu äußern, wodurch sichergestellt wird, dass ihre Perspektive in den Prozess einbezogen wird.

Verbesserung der Definitionsphase: Abduktiv denken. Design Thinking kann als Bottom-up-Ansatz zur Initiierung organisatorischer Veränderungen verstanden werden, da die Ideen, die den zuständigen Entscheidungsträgern vorgelegt werden, aus den Erkenntnissen potenzieller Nutzer, Mitarbeiter und anderer Interessengruppen bestehen. Design-Thinking-Teams versuchen nicht nur, ein Problem zu analysieren (d. h. Phänomene in ihre Bestandteile zu zerlegen), sondern auch eine Synthese zu betreiben (d. h. Teile zu einem größeren System zusammenzufügen). Dennoch tun sich Teams in der Regel schwer mit der Analyse und Synthese, entweder weil die Teammitglieder zu lösungsorientiert sind oder weil sie vom Management unter Druck gesetzt werden. Außerdem fühlen sich viele Teams unwohl, wenn sie mit unterschiedlichen und widersprüchlichen Perspektiven konfrontiert werden, und befürchten, mit ihrem Lösungsvorschlag Fehler zu verursachen. Infolgedessen vermeiden es Teams möglicherweise, die Herausforderung neu zu formulieren, nachdem sie Nutzererkenntnisse gesammelt haben, weil sie Angst haben, von der ursprünglichen Herausforderung abzuweichen. Lewins Ausgangspunkt für seine Entdeckungsreise von wolkigen Wünschen hin zu konkreten Plänen war seine Frage, warum sich eine Person auf eine bestimmte Weise verhält. Er tat dies, indem er abweichende Verhaltensweisen in ähnlichen Situationen feststellte und Erklärungen für die Ursachen dieser besonderen Ereignisse fand. Aus heutiger Sicht könnte man einen solchen Ansatz als abduktives Forschen bezeichnen (z. B. Shani et al., 2020). Im Gegensatz zur Deduktion leitet die abduktive Untersuchung ihre Schlussfolgerungen nicht nur aus dem vorhandenen Wissen ab, sondern kann auch neue Daten produzieren, indem sie die besten Erklärungen für ein beobachtetes Ereignis findet. Bspw. entdeckte und systematisierte Lewin den Laissez-faire-Führungsstil auf der Grundlage einer sorgfältigen Beobachtung des Verhaltens seiner Kollegen (Lewin et al., 1939). Lewin gehörte zu den ersten, die abduktives Denken anwandten (Tateo, 2013) und könnte daher als Inspiration für Design-Thinking-Teams heute dienen. Darüber hinaus vermied Lewin es, zu viel Zeit auf die Analyse unlösbarer Probleme zu verwenden, da für ihn eine Lösung nicht “richtig” oder “falsch” sein kann, sondern nur “besser” oder “schlechter”. Daher könnten Design Thinker Lewin folgen und ein Problem neu formulieren, um es in ein lösbares Problem umzuwandeln (und dadurch eine neue Perspektive auf ein Problem zu gewinnen) und im Lösungsprozess schnell voranzukommen, um so die Bedenken des Managements zu umgehen, in ein langwieriges und ressourcenintensives Verfahren zu investieren. (Mehr zum Abduktiven Denken in diesem Beitrag).

Verbesserung der Entwicklungsphase: Verhaltensbeobachtung zur Überwindung dysfunktionaler Teamdynamiken. Nachdem die Teams die wichtigsten Herausforderungen definiert haben, gehen sie von der Problemdefinition zur Lösungsphase über, indem sie Ideationstechniken wie das Brainstorming einsetzen. Viele Teams stoßen beim Brainstorming jedoch auf Probleme, wie z. B. soziales Faulenzen, Bewertungsangst oder Ideenblockade (Diehl & Stroebe, 1991). Diese Gruppeneffekte führen zu der Annahme, dass kreative Gruppen ihr Potenzial nicht ausschöpfen. Für teambildende Effekte und die Schaffung von Engagement für eine Lösung ist es jedoch notwendig, dass das Team den Output als Teamarbeit und nicht als geniale Arbeit eines einzelnen Teammitglieds betrachtet. In den meisten Fällen sind die Phänomene, die den kreativen Output eines Teams untergraben, das Ergebnis einer dysfunktionalen Teamdynamik, die aus der Innenperspektive schwer zu erkennen ist. Lewin erklärte, dass die Faktoren, die eine Intervention wirksam machen, so gut wie möglich verstanden werden sollten. Dementsprechend stützten sich Lewin und seine Kollegen in der Regel auf Verhaltensbeobachtung (z. B. Barker et al., 1941), und Lewin kann als einer der ersten Forscher verstanden werden, die die Sequenzanalyse verwendeten (Ploder, 2021). Die Verwendung von Kodierungssystemen, die ideenfördernde und ideenhemmende Handlungen erkennen, hilft den Teammitgliedern, sich ihrer Dynamik bewusst zu werden (Endrejat et al., 2019). Feedback, das auf einem festen Kodierungsschema basiert, erhöht die Akzeptanz der Teammitglieder, dass sie sich auf eine bestimmte Weise verhalten haben. Es legt damit den Grundstein für neue Normen innerhalb des Teams, die Lewin als wesentlich für die Steigerung der Leistung eines Teams ansah.

Verbesserung der Umsetzungsphase: Stärkere Betonung der Umsetzung. Viele Teams verbringen die meiste Zeit damit, Herausforderungen zu definieren und Lösungen zu entwickeln, anstatt diese in organisatorische Routinen zu integrieren (Shapira et al., 2017). So kann ein Design Thinking Team verblüffende Erkenntnisse und großartige Ideen entwickeln, die ohne Umsetzung folgenlos bleiben. Schlimmer noch: Wenn latente “Schmerzpunkte” greifbar gemacht werden, kann dies mehr schaden als nutzen. Kurtmollaiev et al. (2018) fanden heraus, dass die Schulung von Teamleitern in Design Thinking einen negativen Effekt auf die operativen Fähigkeiten der Teams hatte. Ein möglicher Grund dafür könnte sein, dass die Schulung nur auf die Teamleiter, nicht aber auf die Teammitglieder ausgerichtet war. Wird Design Thinking auf diese Weise eingeführt, besteht die Gefahr, dass es dem “Tagesgeschäft” fremd bleibt. Nehmen wir zum Beispiel die Schulungsteilnehmer in der Studie von Kurtmollaiev: Diese Manager könnten neue und innovative Lösungen entwickeln, aber auf die Zurückhaltung ihrer Mitarbeiter mit konfrontativer Sprache reagieren, um neue Ideen zu “verkaufen”. Dies wiederum verringert die Chancen, dass ein Prototyp von den vorgesehenen Nutzern akzeptiert wird. In einigen Fällen ist der “Widerstand” also eher das Ergebnis der Kommunikation zwischen einem Design Thinking-Team und den vorgesehenen Nutzern (Endrejat et al., 2020). Daher ist es notwendig, dass die Veränderungsrezipienten zu Mitforschenden werden, die auch bei der Datenerfassung und -bewertung mitwirken. Ein solcher Ansatz wird in einer Studie von Marrow und French (1945) veranschaulicht, zwei von Lewins Kollegen in Harwood. Marrow und French wollten die Stereotypen ändern, die Manager über die Leistung älterer Frauen hatten. Die Manager glaubten den Zahlen, die ihnen vorgelegt wurden, nicht. Daher wählten die Forscher einen anderen Ansatz: Sie ließen die Manager die Entscheidungskriterien festlegen und beauftragten sie mit der Datenerhebung. Diese Methode führte zu der gewünschten Veränderung der Stereotypen.
Während seiner Arbeit mit dem Office of Naval Research lernte Lewin, dass es unwahrscheinlich ist, die gewünschte Veränderung zu erreichen, wenn nur ein Gruppenmitglied geschult wird. Wenn man also erwartet, dass ein Team seine Leistung verbessert, sollten alle Gruppenmitglieder an der Schulung teilnehmen, um die Gruppendynamik in der gewünschten Weise zu verändern. In der Regel ist es jedoch nicht möglich, alle Mitglieder einer Organisation zu Design Thinkern auszubilden. Um dennoch alle betroffenen Mitarbeitenden zu Mitdenker:innen zu machen, könnte das Design Thinking-Team verschiedene Prototypen erstellen und die anderen Mitarbeiter abzustimmen. Ermöglicht wurden diese Ansätze durch technologische Instrumente, die es erlauben, haptische Storyboards, Ideation-Ergebnisse und Prototyping-Ergebnisse auf eine digitale Plattform zu übertragen. Die Ergebnisse des Teams können so leicht mit Kollegen geteilt werden, um sie in den Designprozess zu integrieren. Die Prototypen helfen Managern auch zu verstehen, welche Kräfte in Systemen existieren, die den Status quo stabilisieren. Lewin zu folgen bedeutet in diesem Zusammenhang, nicht zu fragen, warum etwas ist, sondern zu fragen, warum die gewünschte Veränderung noch nicht stattgefunden hat.

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Paul Endrejat
Gründer, Coach & Organisationsentwickler

Paul hat in Potsdam und Utrecht Psychologie studiert und an der TU Braunschweig zum Thema Veränderungsmotivation promoviert. Seine Forschungsinteressen sind die Motivierende Gesprächsführung, Design Thinking, Job Crafting und die Steigerung des umweltbewussten Verhaltens. Bzgl. der Organisationsentwicklung interessiert ihn besonders, wie sich eine Innovationskultur etablieren lässt und was wir von "Klassikern" wie Kurt Lewin lernen können

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