
Ich weiß, dass ich nicht weiß
Für die Dezemberausgabe 2019 der Stadtglanz haben sich Peter und Paul zum Thema Bildung unterhalten. Teile des Gesprächs sind in das Editorial geflossen, welches ihr hier findet.
Peter: Kann man sich Bildung einbilden?
Paul: (lacht). Ich hatte bei dem Thema schon befürchtet, dass wir über Schulcurricula sprechen, und bin froh, dass wir dies vorerst ausklammern. Ja, natürlich kann man sich Bildung einbilden. Meistens tun wir dies sogar. Sokrates wurde vom Orakel von Delphi als schlauster Mensch der Welt identifiziert, weil er als einziger erkannte, dass „Ich weiß, dass ich nicht weiß“. Diese Haltung ist Voraussetzung ständig zu hinterfragen und Neues zu lernen.
Peter: Kann man sich auf Bildung also nicht viel einbilden?
Paul: Soweit würde ich dann auch nicht gehen. Sokrates Vorgehen, um Wissen bei sich und seinem Gegenüber zu generieren ist ja der „Sokratische Dialog“, d.h. durch geschickte Fragen Erkenntnis bei seinem Gegenüber zu erzeugen. Und wenn beim Gegenüber kein Vorwissen vorhanden ist, dann würden die Fragen ins Leere gehen. Und auch die meisten neuen Ideen kommen ja nicht aus dem Nichts, sondern setzen sich aus Bekanntem zusammen. Neue Assoziationen zu bilden ist eine Kernkompetenz um Innovationen zu schaffen. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Für tausende Jahre beobachten wir, wie Dinge runterfallen. Aber erst, als Newton fragte, „warum“ dies geschieht, konnte er ein Naturgesetz formulieren. Doch wäre Newton kein Genie mit breitem Wissensfundus, hätte es trotz einer guten Beobachtungsgabe nicht für die Gravitationstheorie gereicht.
Peter: Also brauchen wir Bildung für Innovationen?
Paul: Und für vieles mehr! Gute Bildung sollte nie nur utilitaristisch (zweckorientiert) sein, sondern dient auch der Persönlichkeitsentwicklung. Sich in die inneren und gesellschaftlichen Konflikte von Raskolnikow in Dostojewskis Schuld und Sühne zu denken, wird wohl kaum zum neuen Apple führen. Aber jeder, der sich auf die Lektüre einlässt, wird auf viele andere Wege profitieren.
Peter: Bildung als wichtiges Fundament auf der einen Seite und „Ich weiß, dass ich nicht weiß“ auf der anderen Seite. Wie passt dies zusammen?
Paul: Deine Frage gibt schon erste Hinweise auf die Antwort: Neue Informationen müssen in Bestehendes Wissen integriert werden. Von daher denke ich nicht, dass die größte Herausforderung darin besteht, Schülerinnen und Schülern neue Informationen zu vermitteln: Die sind ja in der Regel motiviert und wenn man Neues einigermaßen anschaulich vermittelt, dann sollte das kein Problem sein. Doch die meisten Menschen sind ja keine Tabula Rasa.
Peter: Die Herausforderung besteht also nicht Neues zu vermitteln, sondern Neues mit Altem kompatibel zu machen?
Paul: Genau! Bei Thomas de Maizière habe ich neulich gelesen, dass wir im Deutschen zwischen Bildung, Ausbildung und Erziehung trennen. Diese getrennt zu betrachten, ruft dann Probleme hervor. Denn mit der Vermittlung von neuem Wissen (Ausbildung), sollte sich auch das „Super-Ego“, sprich der moralische Kompass weiterentwickeln, was häufig als Aufgabe für die Erziehung oder Bildung zugerechnet wird. Die spannende Frage ist daher, wie wir es schaffen, dass Menschen neue Werte und Sichtweise zumindest bedenken und ggf. sogar übernehmen. Habermas hat vom „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ gesprochen. Schön wäre es, wenn es so einfach wäre.
Peter: Worin besteht die Schwierigkeit?
Paul: Neue Werte und Sichtweisen werden meist nur übernommen, wenn dies freiwillig geschieht. Mit rationaler Logik werden wir keine Einstellungs- oder Verhaltensänderung erreichen. Es reicht also nicht, dass wir einen eleganten Vortrag halten. Stattdessen passiert so etwas durch die aktive Auseinandersetzung mit einer Thematik, am besten durch Experimente. Und Wissen hat eine Netzwerkstruktur. Es reicht also nicht, einen Informationsbit auszutauschen und durch einen anderen Bit zu ersetzen. Von daher sollten all diejenigen, die neues Wissen und Werte vermitteln möchten, eher Hilfestellung leisten, damit sich die Lernenden ihr eigenes Bildungsmosaik zusammensetzen können.
Peter: Klingt kompliziert.
Paul: Ja, aber wenn es einfach wäre, wäre es ja auch langweilig. Und als Lichtblick und um auf deine Ausgangsfrage zurückzukommen: Auf gute Bildung kann man sich etwas einbilden. Denn sie hilft, geistig flexibel zu bleiben und seine eigenen Bilder von der Wirklichkeit ständig zu überdenken.
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