
Die Welt mit anderen Augen sehen
Wahrscheinlich kennen alle von uns das Lied der Kinderheldin Pippi Langstrumpf: „2 x 3 macht 4, Widdewiddewitt und Drei macht Neune. Ich mach’ mir die Welt Widdewidde wie sie mir gefällt …“
Kritische Stimmen behaupten, dass es Pippi an Realitätsbezug fehlt und sie einen egozentrischen Blick auf ihre Wünsche und Bedürfnisse hat.
Pippis Fans hingegen sprechen von Mut, Konventionelles zu hinterfragen und von Leichtigkeit, Dinge anders anzugehen. Mit meiner systemischen Brille würde ich sagen, dass an beiden Sichtweisen etwas „wahres“ dran ist. Aber was bedeutet es überhaupt, wenn wir von Wahrheit, Wirklichkeit und Realität sprechen?
Eine objektive Wahrheit gibt es nicht
Der Physiker und Philosoph Heinz von Foerster würde auf diese Frage wahrscheinlich mit: „Eine objektive Wahrheit gibt es nicht.“ antworten. Als Vertreter des radikalen Konstruktivismus ging er davon aus, dass die persönliche Wahrnehmung nicht das Abbild einer Realität produzieren könne, welche unabhängig vom Individuum besteht, sondern dass Realität für jedes Individuum immer nur eine Konstruktion seiner eigenen Sinnesreize und seiner Gedächtnisleistung bedeute. Deshalb sei Objektivität im Sinne einer Übereinstimmung von wahrgenommenem (konstruiertem) Bild und Realität unmöglich; jede Wahrnehmung sei damit vollständig subjektiv.
Drei Sichtweisen, ein Hotel
Vielleicht wirkt diese Annahme zunächst einmal recht technisch auf euch, daher ein kurzes Beispiel: Maria und Thomas starten zusammen mit ihrem Sohn Emil in den wohl verdienten Sommerurlaub – wie wahrscheinlich aktuell einige von euch auch. Die Beschreibung laut Veranstalter verspricht „Strandlage“, „Blick aufs Meer“ und „direkte Wege ins Zentrum“.
Maria hat das Hotel aufgrund der Strandlage gebucht und freut sich schon darauf morgens direkt vom Hotelausgang auf den Strand zu springen und dort viele Stunden in der Sonne zu verweilen. Thomas hat in den vergangenen Wochen viel gearbeitet und freut sich daher schon sehr auf die Ruhe und das entspannte Meeresrauschen bei geöffnetem Balkon. Sohn Emil hat nicht so richtig Lust auf Ruhe, er erlebt lieber etwas in der City, daher freut er sich über die Zentrumsnähe.
Ein kurzer Stopp an dieser Stelle: Wir sehen, dass die Familie zwar an denselben Urlaubsort reist, aber ganz unterschiedliche Wünsche und Erwartungen mitbringt. Zwei Wochen später sitzt die Familie bei Großmutter Elisabeth am Küchentisch: „Und ihr Lieben, wie war euer Urlaub?“
Maria schaut bedrückt und sagt: „Naja, von Sonne habe ich leider nicht viel gesehen.“
„Aber die Lage am Meer war doch super“, entgegnet Thomas. Emil zeigt währenddessen seine vielen neuen Erinnerungen, die er sich im Nahe gelegenen Zentrum gekauft hatte.
Subjektive Wirklichkeiten
Ein weiterer Stopp: An diesem Alltagsbeispiel erkennt man, wie Erfahrungen, Wünsche, Erwartungen und Reize von Außen zusammenwirken und daraus eine ganz eigene subjektive Wirklichkeit entsteht. Treffen diese aufeinander und sollen dann auf eine Frage wie „Wie war der Urlaub?“ reagieren, erhält man entsprechend subjektive Antworten, welche alle für sich genommen „wahr“ sind.
Der Konstruktivismus ist eine zentrale und spannende Annahme, wenn wir über den systemischen Ansatz sprechen. Für mich geht es hier um das Hinterfragen, Erkennen und Tolerieren von subjektiven Wirklichkeiten, um mit diesen als Coach arbeiten zu können. Sei es im Individualcoaching, in Teamentwicklungsprozessen oder auf organisationaler Ebene.
Literaturtip:
Von Foerster, H., & Pörksen, B. (2016). Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 11. Auflage. Heidelberg: Carl Auer Systeme-Verlag.
Mehr erfahren?
Deep Dive Systemischer Ansatz am 10. und 11. November
Tags: Methoden Konstruktivismus